Ein persönlicher Text über Augenhöhe, Rückschritte und strukturelle Ehrlichkeit
Wir sagen, wir wollen Augenhöhe. Verantwortung teilen. Gemeinsam gestalten.
Und doch – wenn es schwierig wird, wenn Unklarheit aufkommt, wenn etwas nicht rund läuft – greifen wir zurück. Auf Führung. Auf klare Ansagen. Auf jemanden, der „es jetzt richten soll“.
Es ist ein Reflex.
Und gleichzeitig ein Verrat an dem Ideal, das wir vorher so überzeugt formuliert haben.
Ich beobachte dieses Spannungsverhältnis auf verschiedenen Ebenen: in der Weltpolitik, in der Diskussion um Geschlechterrollen, in unserer eigenen Organisation. Und ich frage mich – immer wieder:
Was braucht es, um diesen Reflex nicht einfach durchzuziehen – sondern zu erkennen und zu unterbrechen?
1. Weltpolitik: Der Rückzug der Kooperation
Nach dem Kalten Krieg schien sich eine multipolare, gerechtere Weltordnung abzuzeichnen. Bewegungen aus dem globalen Süden forderten Mitsprache und Augenhöhe. Multilaterale Institutionen wuchsen, wenn auch langsam. Und Staaten wie die USA – zumindest unter Obama oder in Ansätzen auch Biden – signalisierten, nicht mehr alles selbst bestimmen zu wollen.
Doch mit der Rückkehr Trumps ist dieser Prozess ins Stocken geraten. Machtpolitik erlebt ein Comeback. Wir sehen es bei Handelsfragen, bei internationalen Konflikten, in der Sprache der nationalen Alleingänge.
Kooperation wird ersetzt durch Stärke. Augenhöhe durch Autorität.
Und auch wenn wir wissen, dass Multilateralismus mühsam ist – der Rückfall in ein altes Spiel bringt selten bessere Lösungen.
2. Geschlechterverhältnisse: Gleichstellung als Dauerbaustelle
Auch hier ist das Muster erkennbar. Die Gleichstellung ist gesellschaftlich breit anerkannt, und doch bleibt das Machtverhältnis schief:
- Männer sind nach wie vor überproportional in Führungsfunktionen,
- sie verdienen im Durchschnitt mehr,
- sie haben institutionell wie kulturell mehr Deutungshoheit.
Und das verändert die Spielregeln nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in Beziehungen. Viele Frauen erleben: „Du darfst alles – aber du musst auch alles.“ Verantwortung für Kinder, Erwerbsarbeit, Care-Arbeit – bei strukturell ungleicher Verteilung der Machtmittel.
So erstaunt es nicht, dass manche sich in klassische Rollen zurückziehen. Nicht aus Rückschrittlichkeit, sondern aus Enttäuschung.
Weil das Versprechen von Gleichstellung im Alltag oft nicht trägt.
Weil die Bedingungen fehlen, um diese Gleichstellung tatsächlich zu leben.
Und Gleichheit braucht mehr als Haltung: Sie braucht ökonomische Sicherheit, geteilte Macht, sichtbare Verantwortung auf beiden Seiten.
Gleichstellung ohne strukturellen Wandel bleibt ein leeres Ideal.
3. Organisation: Soziokratie braucht Gegenmacht
Ich sehe diese Dynamik sehr konkret in meiner eigenen Organisation – dem Zentrum für Verbandsführung. Wir haben uns für soziokratische Prinzipien entschieden: klare Rollen, gemeinsame Entscheidungen, geteilte Verantwortung.
Aber ich bin auch: Gründer. Entwickler. 100-prozentiger Eigentümer.
Diese Rolle verleiht mir faktisch mehr Macht – auch wenn ich sie nicht aktiv ausübe. Und das spüren andere im System. Besonders dann, wenn es keine formale Geschäftsleitung gibt oder zentrale Entscheidungen anstehen.
Deshalb haben wir eine externe Ombudsstelle eingerichtet – bewusst, als strukturelles Gegengewicht. Damit Rückmeldungen möglich sind, auch wenn sie sich gegen mich richten. Damit Vertrauen nicht nur als Haltung, sondern als institutionelle Absicherung existiert.
Soziokratie funktioniert – aber sie braucht Ehrlichkeit über Macht. Und sie braucht Räume, die Macht begrenzen.
4. Start-up-Realität: Schlüsselstellen im Aufstieg
Wir sind ein junges Unternehmen. Vieles ist neu: Kunden, Prozesse, Tools, Zusammenarbeit. Und das ist anstrengend. Ich vergleiche es oft mit dem Klettern:
Man steht vor einer Schlüsselstelle. Man probiert. Rutscht ab. Holt sich Tipps. Probiert wieder. Und irgendwann klappt es. Im Rückblick wirkt alles logisch – aber im Moment selbst ist es unklar, fordernd, manchmal frustrierend.
Das braucht Ausdauer. Vertrauen. Und nicht zuletzt: die Fähigkeit, das Ideal nicht zu verlieren, auch wenn der Alltag es herausfordert.
5. Und dann ruft doch wieder jemand nach Führung
Trotz aller Bemühungen, auf Augenhöhe zu arbeiten, höre ich auch:
„Da hätten wir mehr Führung gebraucht.“
„Es war nicht klar genug.“
Und vielleicht ist das nur menschlich.
In der Unsicherheit rufen wir nach Klarheit.
In der Krise rufen wir nach Struktur.
In der Überforderung rufen wir nach Führung – oft reflexhaft.
Ich merke, wie mich das manchmal fast ohnmächtig macht.
Dass wir als Gesellschaft zurückfallen. In Weltpolitik, in Geschlechterfragen, in Organisationen.
Dass die alten Muster – obwohl bekannt und problematisch – doch wieder greifen.
Und ich frage mich:
Was tun?
Wie führen, ohne zu dominieren?
Wie Gleichwertigkeit halten – auch in der Krise?
Einladung zum Austausch
Ich habe kein Rezept.
Aber ich habe Fragen.
Und ich merke: Ich bin nicht allein mit diesen Fragen.
Deshalb:
Wie geht ihr mit diesem Spannungsfeld um?
Was hilft euch, Augenhöhe zu halten – gerade wenn es schwierig wird?
Welche Strukturen, Prinzipien oder Erfahrungen stärken euch darin, nicht reflexhaft in die alte Führung zurückzufallen?
Ich freue mich auf Austausch, Gedanken, Widerspruch – auf neue Perspektiven.
Denn Augenhöhe entsteht nicht durch Einsicht allein. Sie entsteht im Gespräch.
Herzlich
Martin